„Chácara dos meninos de quatro pinheiros“

Oktober 2021: Der Verein „Freunde brasilianischer Strassenkinder“ beendet die Unterstützung des Projekts Chácara. 

Die Generalversammlung des Vereins hat am 1. Oktober 2021 beschlossen, die Unterstützung des Projektes Chácara per Ende Jahr einzustellen. Der scheidende Vereinspräsident der «Freunde brasilianischer Strassenkinder», Simon Niederhauser, betonte, dass es dem Vorstand nicht leicht gefallen sei, diesen Schritt zu beantragen: «In den vergangenen drei Jahren war die Zusammenarbeit mit der Chácara das Hauptthema in unseren Sitzungen und der Ausstiegsentscheid ist in dieser Zeit langsam gereift.»

Die Mitglieder waren mit der Einladung zur Generalversammlung in der Mediathek der Kantonsschule Küsnacht über die Gründe für den Antrag informiert worden: Der Vorstand der «Freunde» hatte in den vergangenen Jahren feststellen müssen, dass nach dem Abgang von Chácaragründer und -Leiter Fernando de Gois der Spirit des Projekts mehr und mehr verloren ging. Dieser Spirit bestand unter anderem darin, mit relativ bescheidenen Mitteln und unter starkem Einbezug der Betreuten und Ehemaliger, möglichst vielen Strassenkindern ein würdiges Leben zu ermöglichen und eine Zukunftsperspektive zu geben.

Zuletzt wurden bei wenig verändertem finanziellem Aufwand immer weniger Kinder betreut. Unser Vorstand versuchte, durch vermehrte Begleitung des Projekts und mit einer Studie durch das lokale Beratungsunternehmen UNA die Situation zu analysieren und Veränderungen anzustossen. Mit einem Leitungswechsel im Projekt verbanden wir Hoffnung, doch leider blieben die Resultate aus unserer Sicht ungenügend.

Unser Verein finanzierte zuletzt etwa 30 Prozent der Kosten der Chácara. Darüber hinaus haben wir immer wieder Engpässe in beschränktem Rahmen gedeckt. Diese finanzielle Unterstützung macht für den Vorstand in der Schweiz aber nur Sinn, wenn das Projekt wieder mehr Kinder betreuen und ihnen eine Perspektive bieten kann. Zu unserem Bedauern ging die Entwicklung in die andere Richtung.

Damit ist die Chácara alles andere als alleine. Auch andere ähnliche Projekte betreuen weniger Kinder, was zum Teil strengeren staatlichen Vorgaben geschuldet ist. Die neuen Bestimmungen, beruhend auf Uno-Richtlinien, sehen vor, dass Mädchen und Knaben nur noch ganz selten von ihren Verwandten getrennt in Einrichtungen wie der Chácara leben – selbst jene, die aus stark zerrütteten Familien stammen.

An der Generalversammlung stiess der Antrag auf Beendigung der Zusammenarbeit auf Verständnis der anwesenden Mitglieder. Der Entscheid fiel einstimmig.

In der Küsnachter Mediathek erklärte unsere Gründungspräsidentin Anna Schmid, wie sich aus der Chácara ein starkes Netzwerk entwickelt hat, in das auch sie involviert ist: Die ehemaligen Projektbewohner – die ältesten von ihnen sind bereits über 40 Jahre alt – unterstützen sich gegenseitig. Der Austausch findet in einer WhatsApp-Gruppe statt.

Beispielsweise wird dort beraten, wie man einen Ex-Mitbewohner am besten unterstützen könnte, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, oder einen anderen, damit er mit seinem Drogenproblem besser umgehen kann. Zu Beginn der Pandemie ergriff die Gruppe eine Initiative, um Bedürftige mit Lebensmitteln zu versorgen und um Menschen, die auf der Strasse leben, zu unterstützen.

«Der Geist der Chácara lebt weiter», sagte Gründungspräsidentin Anna Schmid an der Generalversammlung, «auch wenn das Projekt in der ursprünglichen Form nicht mehr existiert.» Besonders ist dies im Projekt Passos da Criança der Fall, das von Adilson, einem der ersten Chácara-Bewohner, gegründet wurde. Die «Freunde» aus der Schweiz unterstützen die Tagesstätte für Kinder aus einem Armenviertel weiterhin.

 

  

Der nachfolgende Text gibt die Beschreibung des Projekts wider, wie es in der Phase der aktiven Unterstützung durch die „Freunde brasilianischer Strassenkinder“ bestanden hat:

Das Chácara Projekt (formell: Fundação Educacional Meninos e Meninas de Rua Profeta Elias) existiert seit dem Jahr 1994 im Dorf Mandirituba, mehr als eine Stunde ausserhalb der Millionenstadt Curitiba. Gegründet wurde es vom ehemaligen Karameliter-Mönch Fernando de Gois. In den Häusern des Projekts, das auf einem kleinen Landgut ausserhalb des Dorfes liegt, leben die Kinder und Jugendlichen. Sie wohnen nach Alter aufgeteilt in verschiedenen Häusern auf dem grossen Landgut.

Im Mittelpunkt der Bemühungen der Chácara steht die ganzheitliche physische, intellektuelle, emotionale und moralische Entwicklung der Kinder. Die Jungs sollen die Instrumente in die Hand erhalten, um ihres Glücks eigener Schmied zu werden. Selbstbestimmung und Selbstvertrauen, das durch schwierige Geschichten oft in Mitleidenschaft gezogen wurde, sind dabei zentrale Elemente – ebenso wie die Fähigkeiten zu lernen, in einer Gemeinschaft zu leben. Das ist für Kinder, die mit Gewalt, Ausbeutung oder Vernachlässigung aufwuchsen, nicht immer einfach. Wichtig ist auch, dass sie ihre Grenzen kennenlernen. Frustrierende Erfahrungen oder die bei vielen Jungs späte oder ungenügende Einschulung sind ebenfalls beschränkende Faktoren in der Entwicklung, um dereinst für eine demokratische und emanzipierte Gesellschaft einstehen zu können. Diese behindernden Faktoren will das Projekt möglichst ausräumen und damit Barrieren niederreissen, die durch das Fehlen öffentlicher Institutionen in Brasilien noch immer gross sind.

Die Kinder und Jugendlichen gehen in eine öffentliche Schule oder absolvieren weiterführende Ausbildungen. Der Unterricht findet in Schichten statt. Die ersten Kinder gehen morgens zur Schule, eine zweite Gruppe nachmittags und am Abend werden noch einmal Jugendliche unterrichtet. Neben der Schule werden die Jungs von Pädagogen und Lehrpersonen betreut und bei ihren Hausaufgaben oder bei generellen schulischen Schwierigkeiten begleitet. Die Ergebnisse dürfen sich sehen lassen: In nicht wenigen Fällen steigt die Motivation der Kinder für die Schule ebenso wie die Lernbereitschaft. Begleitet werden die Jungs auch von SozialarbeiterInnen und PsychologInnen, welche Formalitäten klären und sie in ihrer Entwicklung begleiten.

Im Alltag der Chácara werden die Jungs in viele Gemeinschaftsarbeiten eingebunden, wie das Saubermachen, Feldbau, Gartenarbeit, die Organisation der Häuser oder die Organisation von spielerischen oder sportlichen Anlässen. Fussball und andere Ballspiele sind hier sehr beliebt. Auch besteht die Möglichkeit, in der Freizeit die Theater- und Kunstworkshops zu besuchen, welche wöchentlich angeboten werden.

Durch seine Familienarbeit erreicht das Projekt weit mehr von Armut und Gewalt betroffene oder gefährdete Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene. Die in der Chácara beschäftigten SozialarbeiterInnen nehmen auch diese Aufgabe wahr. So finden beispielsweise vier jährliche Familientreffen statt – wichtige Momente für die Kinder und die Eltern. Auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt, zeigen die Resultate, dass Wandel möglich ist. Nicht wenige Kinder schaffen die Rückkehr zu ihren Familien oder werden adoptiert.

Der Schweizer Staat hat Fernandos Chácara über die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) unterstützt. In Fachkreisen geniesst das Projekt dank des starken Einbezugs der Kinder und Jugendlichen in die Projektorganisation hohes Ansehen. So hat beispielsweise die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, die Unesco, in einer Studie die Chácara als „innovatives und erfolgreiches Projekt“ bezeichnet. Im Dezember 2010 erhielt Fernando de Gois den „Premio Betinho“, einen von der brasilianischen Regierung gestifteten Preis zur Ehrung von Menschen, die sich für Benachteiligte einsetzen. 2012 wurde Fernando mit dem „Trofeu Zilda Arns“ ausgezeichnet und 2014 erhielt er die Ehrenbürgerschaft des Staates Paraná in Brasilien.

2014 hat Fernando die Leitung der Chácara an ein Team von interdisziplinären Fachkräften abgegeben, welche heute gemeinsam mit Erziehern für die Jungs sorgen.

Webseiten des Projekts (Links unabhängig vom Verein „Freunde brasilianischer Strassenkinder“):

Bulletin der Chácara:

Artikel über die Chácara und/oder Fernando mit Fotos (alle Links unabhängig vom Verein „Freunde brasilianischer Strassenkinder“):

  • Artikel 1 (auf portugiesisch, 2010)
  • Artikel 2 (auf portugiesisch, 2011)
  • Artikel 3 (auf portugiesisch, 2012)
  • Artikel 4 (auf portugiesisch, 2012)
  • Artikel 5 (auf portugiesisch, 2014)
  • Artikel 6 (auf portugiesisch, 2014, Verleihung Ehrenbürgerschaft des Staates Paraná an Fernando)

Videos aus der Chácara (alle Links unabhängig vom Verein „Freunde brasilianischer Strassenkinder“):

  • Video 1: Video einer brasilianischen Hilfsorganisation in der Chácara
  • Video 2: Freizeitspass
  • Video 3: Dokumentation über die Chácara von 2002
  • Video 4: Bericht zum Anlass der „Ehemaligen“ im Oktober 2012, Teil 1
  • Video 5: Bericht zum Anlass der „Ehemaligen“ im Oktober 2012, Teil 2
  • Video 6: Video von 2009 über die Chácara incl. Interview mit Fernando
  • Video 7: Dokumentation von 2007 über die Chácara incl. Interviews mit Fernando, Erziehern und weiteren Personen im Umfeld des Projekts (Teil 1)
  • Video 8: Dokumentation von 2007 über die Chácara incl. Interviews (Teil 2)
  • Video 9: TV Bericht über den Besuch eines bekannten Fussballspielers in der Chácara
  • Video 10: Fernando spricht bei einem TEDx Event über die Chacara (2013)
  • Video 11: Interview mit Fernando im brasilianischen TV vom November 2012, auch mit Bildern aus der Chácara
  • Video 12: TV Bericht von 2015 über die Chácara
  • Video 13: Interviews von 2015 mit Fernando, Erziehern und Helfern der Chácara
  • Video 14: Interview 2016 mit Fernando (Teil 1, weitere Teile bei Youtube verknüpft)
  • Video 15: Video mit Fotos und Momenten aus dem Jahr 2016
  • Video 16: Video 2017 aus der Chacara, in dem die Kinder Samen in Töpfen pflanzen
Sonstige Artikel (alle Links unabhängig vom Verein „Freunde brasilianischer Strassenkinder“):
  • Artikel 1: Bericht über die Zusammenarbeit der ZHAW mit Brasilien und anderen Ländern